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Reform des Kindschaftsrechts BMJ Bundesjustizministerium 2024 - Sorgerecht Umgangsrecht Adoptionsrecht Unterhaltsrecht

6 Verbände Stellungnahme zur Reform des Kindschaftsrechts
zum Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums BMJ vom 16.1.24

„Modernisierung von Sorgerecht, Umgangsrecht, Adoptionsrecht & Unterhaltsrecht“

Inhalt
1 Zusammenfassung ...................................................................................... 2
2 Fehlende Lösungen und Leerstellen ............................................................. 3
2.1 Gleichberechtigte Elternschaft – Betreuung statt Umgang ....................... 3
2.2 Gleichbehandlung elterlicher Betreuungsverantwortung ......................... 3
2.3 Zusammenlegung von Umgangs- und Unterhaltsverfahren ..................... 4
2.4 Verpflichtende Mediation vor Beginn von Familienverfahren ................... 4
2.5 Prävention von induzierten Kontaktabbrüchen ....................................... 5
3 Die Kritik im Einzelnen ................................................................................ 6
3.1 Vollstreckbare „Umgangsvereinbarung“ (III.3) ......................................... 6
3.2 Gemeinsames Sorgerecht (III.6) .............................................................. 7
3.3 Partnerschaftliche Betreuung (III.7) ......................................................... 7
3.4 Schutz vor häuslicher Gewalt (III.8) ......................................................... 9
3.5 Stärkung der Kinderrechte (III.9) ........................................................... 10
4 Politische Dimension und Bewertung ......................................................... 11
4.1 Einschätzung ....................................................................................... 11
4.2 Einordnung in den Gesamtzusammenhang ........................................... 12
4.3 Gesellschaftliche Folgen ....................................................................... 13

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1. Zusammenfassung

Das deutsche Familienrecht bildet die Realität des Familienlebens vielfach nicht mehr ab. Es behandelt Eltern ungleich, verhindert gemeinsame Verantwortungsübernahme und fördert Konflikte.
Mit der angestrebten Reform des Kindschafts- sowie im Abstammungsrechts sollen diese Fehlanreize überwunden und das Familienrecht modernisiert werden. Konkret heißt es im Eckpunktepapier (EPP) des Bundesjustizministeriums zur geplanten Reform:
„Die Vorschläge zielen zum einen darauf, Trennungsfamilien besser dabei zu unterstützen, eine am Kindeswohl orientierte partnerschaftliche Betreuung minderjähriger Kinder zu verwirklichen. Dazu sollen Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten der Eltern gestärkt werden.“
Die hier genannten Ziele und Verbesserungen für Trennungsfamilien sind im Grundsatz richtig. Sie können jedoch nicht erreicht werden, da sie gar nicht adressiert werden. Hinter der Vielzahl von Änderungen und Anpassungen verbergen sich gerade in zentralen Bereichen riesige Leerstellen. Bei näherer Prüfung offenbart sich so die Erkenntnis: Im Familienrecht geht es einen Schritt vor und zwei Schritte zurück.
Deutschland ist europaweiter Spitzenreiter bei Verurteilungen durch den EGMR in Familiensachen. In keinem anderen EU-Land gibt es bei Trennungen eine ähnlich hohe Prozessquote. Ursache ist, dass unser Familienrecht starke Streitanreize setzt und konfliktförderndes Verhalten nicht begrenzt. Die vorgeschlagenen Eckpunkte ändern nichts daran, dass das Familienrecht eskalierendes Verhalten belohnt und damit systemisch fördert.
So ist es schön, dass im EPP nun die Verankerung einer vollstreckbaren Elternvereinbarung im Gesetz vorgesehen, wie bereits Ende 2019 von der damaligen Reformkommission im BMJ gefordert. Bisher braucht es hierfür einen Gerichtsbeschluss, denn private Betreuungs-vereinbarungen der Eltern untereinander sind bisher ohne jede rechtliche Relevanz. Das bekannte Problem, dass entsprechende Beschlüsse faktisch nicht durchgesetzt werden, bleibt jedoch weiterhin bestehen.
Auch eine verpflichtende Mediation, die in vielen anderen Ländern eine deutliche Reduktion des Konfliktniveaus bewirkt hat und die im Rahmen der Elternpflichten nach Art. 6 GG zum Wohle der Kinder durchaus zumutbar wäre, fehlt im Entwurf.
Ein weiteres Beispiel ist die geplante Aufnahme der paritätischen Betreuung („Wechselmodell“) in das Gesetz, in dem bisher nur das Residenzmodell kodifiziert ist. Dies ist ein im Grundsatz begrüßenswertes Ansinnen. Jedoch bleibt die geplante Regelung, die letztlich auf die Wiederherstellung des Veto-Rechts eines Elternteils hinausläuft, noch hinter dem BGH-Urteil von 2017 zur Anordnung der paritätischen Betreuung zurück (BGH XII ZB 601/15).
Das Grundproblem des deutschen Kindschaftsrechts ist die rechtliche Hierarchisierung der Eltern in Betreuungs- und Umgangselternteil. Eine langfristige Lösung wäre eine konsequent gleichberechtigte Elternschaft im Sinne der Art. 3 und 6 GG.
Statt beide Eltern als Betreuungspersonen ihrer Kinder wahrzunehmen, wird jedoch weiterhin in artifiziellen und nicht sachgerechten Stufenmodellen gedacht. Auch das gemeinsame Sorgerecht ab Geburt wird es in Deutschland nicht automatisch geben, während fast alle anderen EU-Länder dies bereits seit langem umgesetzt haben.
Es ist völlig unverständlich, warum die vorliegenden und überaus sinnvollen Ergebnisse der Expertenkommission von 2019 nahezu keinen Eingang in das EPP gefunden haben. Das

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entsprechende Thesenpapier wurde inzwischen sogar von Internetseite des BMJ entfernt.1

Noch weniger ist verständlich, warum es offenbar keinerlei Anstrengungen gibt, aus funktionierenden Regelungen anderer Länder im Sinne eines Best-Practice-Ansatzes zu lernen.
Ein am Kindeswohl orientiertes Kindschaftsrecht muss die gemeinsame Verantwortungs-übernahme der Eltern fördern, eskalierendes Verhalten wirksam sanktionieren und so auf den Erhalt der Beziehung zu beiden Eltern hinwirken (Art. 24 EU-Grundrechte-Charta, Art. 9 UNKRK).
Diese Ziele können durch die Vorschläge des BMJ nicht erreicht werden, weil das EPP auf der konkreten Handlungsebene keine wirksamen Maßnahmen zu deren Umsetzung enthält. Die vorgeschlagenen Eckpunkte beschreiben somit faktisch eine Reform ohne Reform.

2. Fehlende Lösungen und Leerstellen

Das BMJ ignoriert viele zeitgemäße Lösungsansätze, die sich in anderen westlichen Ländern seit Jahren und Jahrzehnten nachweislich bewährt haben. Dies alles ist schwer erklärlich.

2.1 Gleichberechtigte Elternschaft – Betreuung statt Umgang

Bereits 2019 hatte die damals eigens vom BMJ eingesetzte Reformkommission formuliert:
„Betreuung endet nicht mit der Trennung der Eltern. Eltern werden somit nicht mehr auf ein bloßes Umgangsrecht verwiesen.“
und
„Der Begriff Umgang soll künftig nur noch zur Regelung des Kontakts des Kindes mit Dritten […] gelten.“
Das BMJ verzichtet in seinem EPP auf die Umsetzung dieser Forderungen aus dem eigenen Hause und schreibt die bestehende unzeitgemäße Hierarchisierung der Eltern, beginnend ab dem Tag einer Trennung, fort. Die praktische Umsetzung von Art. 3 (2) und Art. 6 (2) GG wird so vertan.

2.2 Gleichbehandlung elterlicher Betreuungsverantwortung

Das BMJ behandelt die Eltern im Trennungskontext ungleich und teilt die Eltern in den zweiten Haushalten willkürlich und ohne jeden Grund in drei „Klassen“ ein:
(1) Eltern, die ihre Kinder zu exakt paritätisch betreuen („Wechselmodell“)
(2) Eltern mit einem Betreuungsanteil von 30 % bis 49 % („asymmetrisches Wechselmodell“)
(3) Eltern, die weniger als 30 % betreuen („Residenzmodell“)
Dabei übernehmen Eltern Sorgeverantwortung sowohl während der Partnerschaft als auch im Trennungskontext. Die artifizielle Aufteilung in solche Stufen ist offen diskriminierend, da hier stets die Betreuungsleistung des zeitlich weniger betreuenden Elternteils abgewertet wird:
Ein Betreuungsanteil von 45% wird im obigen Modell wie 30% gewertet und damit abqualifiziert. Umgekehrt wird der Betreuungsanteil des zeitlich mehr betreuenden Elternteils von 55% auf 70% aufgewertet.
Eine Betreuungsleistung von unter 30% wird komplett entwertet.
Es ist unverständlich, weshalb das BMJ hier eine Einteilung in drei Klassen kodifizieren will, die insbesondere an den Stufengrenzen ein immanentes Konflikt- und Streitpotenzial besitzt. Dies

1 Der frühere Beitrag auf der Seite des BMJV zu den Ergebnissen der Expertenkommission von 2019 kann hier eingesehen werden, das Thesenpapier der Kommission findet sich hier.

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führt zu massiven Verzerrungen der tatsächlich wahrgenommenen Elternverantwortung und hat weitreichende Auswirkungen auf das Unterhaltsrecht.
Im Sinne des Grundgesetzes (Art. 3 und 6 GG) muss hier zwingend eine Gleichbehandlung der Eltern erfolgen: Beide Eltern betreuen – aber möglicherweise zu unterschiedlichen Anteilen.

2.3 Zusammenlegung von Umgangs- und Unterhaltsverfahren

Das BMJ verweigert in seinem EPP das Zusammenlegen von Umgangs- und Unterhaltsrecht in ein gemeinsames Verfahren und zementiert die bestehende familiengerichtliche Aufteilung in zwei getrennte Verfahren mit hohen Prozesskosten.
Und dies, obwohl im BMJ sehr gut bekannt ist, dass Familienrechtsanwälte in ihrer strategischen Zielsetzung mit ihrer Mandantschaft zwischen beiden Anliegen nicht unterscheiden. Dies führt oftmals dazu, dass sachfremde (finanzielle) Erwägungen bezüglich des Unterhalts zu Lasten der Kinder in das Umgangsverfahren eingebracht werden.2
Zwischen der Betreuungsaufteilung („Umgangsrecht“) und den jeweiligen Bedarfen der Kinder in den beiden Haushalten der Eltern (Unterhaltsrecht) besteht ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang, beide Aspekte müssen daher im Verbund betrachtet werden.
Ein solches Verbundverfahren würde zusammen mit einer zeitanteiligen (linearen) Unterhalts-regelung zu einer deutlichen Befriedung von Trennungskonflikten und eine Reduktion der Verfahrenskosten führen. Beides scheint im EPP des BMJ nicht beabsichtigt zu sein.


2.4 Verpflichtende Mediation vor Beginn von Familienverfahren

Das BMJ legt seinen Hauptfokus auf die bestehenden, jedoch fehlleitenden, gerichtlichen Strukturen. Getrennte Sorgerechts-, Umgangs- und Unterhaltsverfahren führen für beide Eltern zu hohen Prozesskosten und eskalieren in aller Regel den Elternkonflikt.
Bei Trennungen hat sich demgegenüber in vielen westlichen Ländern ein vorgerichtliches Familienverfahren mit verpflichtender Mediation bewährt. Entsprechende Ansätze waren mit dem Cochemer Modell oder der Warendorfer Praxis auch in Deutschland erfolgreich.
Konflikte können so frühzeitig entschärft und die betroffenen Kinder entlastet werden. In nachgewiesener Weise unterstützt der Ansatz „Mediation“ die Eltern beim Aushandeln der Betreuungsanteile und anderer Trennungsmodalitäten. Dabei gibt es weder Gewinner noch Verlierer in einem hierarchischen Sinne, so dass solche Vereinbarungen in aller Regel auch mittelfristig tragfähig sind.3

Sicher können nicht alle Elternkonflikte durch Mediation gelöst werden. Jedoch liegen beim Eintritt in das strittige Verfahren dann bereits eine Reihe von Erkenntnissen und Vorarbeiten vor, die dieses dann erleichtern und beschleunigen.

2 Den sechs Verbänden sind zahlreiche Umgangsverfahren bekannt, in denen Kinder vor dem Familiengericht verzweifelt begründen mussten, warum sie sich einerseits eine 6:8 Aufteilung wünschen, aber eine paritätische 7:7 Aufteilung keinesfalls möglich sei.
3 Gleichzeitig sinken die Verfahrenskosten, was möglicherweise ein Grund dafür ist, dass die gerichtsnahen Professionen dem Konzept einer verpflichtenden Mediation oftmals ablehnend gegenüberstehen.

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2.5 Prävention von induzierten Kontaktabbrüchen


Das BMJ vermeidet in seinem EPP den Blick auf ein Massenphänomen: Induzierte Kontaktabbrüche zwischen Eltern und Kindern in Trennungsfamilien.4
Die Entziehung von Kindern durch einen Elternteil im Falle einer Trennung hat in Deutschland keinerlei Konsequenzen, weder familien- noch strafrechtlich.5 Ebenso werden entfremdendes Verhalten oder prozesstaktische Falschbeschuldigungen in keiner Weise sanktioniert. Vor diesem Hintergrund ist die hohe Zahl an Kontaktverlusten zu einem Elternteil nicht verwunderlich, sondern eine zwingend logische Folge.
Derartige Verhaltensmuster haben gravierende Folgen für die psychische Gesundheit aller Beteiligten und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Obwohl Deutschland in der Vergangenheit wiederholt vom EGMR wegen Inaktivität in diesem Kontext verurteilt wurde, enthält das EPP nicht eine Zeile zu dieser Problematik.6 Dabei zeigt der Blick in andere Länder, dass es hier durchaus wirksame Lösungsansätze gibt:
- Frühzeitige Sanktionierung von eskalierendem Verhalten und Brechen von Vereinbarungen, da das Kind hierdurch akut und nachhaltig belastet wird.
- Regelmäßige Fortbildung und Supervision von Richtern und Jugendamtsmitarbeitern, um mit der psychischen Dynamik konflikthafter Trennungen sachgerecht umgehen zu können.
- Benennung von entfremdenden Verhalten als das, was es ist: psychische Gewalt gegen das Kind und somit akute Kindeswohlgefährdung.
- Konsequente strafrechtliche Verfolgung der Entziehung von Kindern und Aufhebung des Ausnahmetatbestandes für Eltern im § 235 StGB.7
- Umgehende Rückführung entzogener Kinder in ihr gewohntes soziales Umfeld sowie Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den anderen Elternteil.
In anderen westlichen Ländern werden induzierte Kontaktabbrüche als klare Kindeswohl-gefährdung gewertet und entsprechend sanktioniert. Denn der damit verbundene Verlust des gewohnten sozialen Umfelds (Freunde, Schule, Kita, Vereine) und wichtiger Bezugspersonen (anderer Elternteil, Verwandte) hat immer einen einschneidenden, negativen Einfluss auf die Biographie und Psyche des Kindes.
Im deutschen Familienrechtswesen wird das Kind dagegen vielfach immer noch als Eigentum des „Betreuungselternteils“ und somit als Objekt wahrgenommen, obwohl doch die rechtliche Subjektstellung des Kindes inzwischen unbestritten sein sollte. Dieser kognitiven Dissonanz begegnen Familiengerichte oftmals durch Aussitzen im Sinne einer vorsätzlichen Verfahrens-verschleppung, was zu den zahlreichen Urteilen des EGMR gegen Deutschland führt. Daher einige internationale Beispiele, wie man es anders machen könnte:
Relocation Law in den USA und Kanada
In den meisten nordamerikanischen Staaten verliert ein Elternteil, der durch einseitigen Wegzug mit dem Kind den Kontakt zum bisherigen sozialen Umfeld unmöglich macht, das


4 In seiner Stellungnahme zum „Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht“ geht der Experte Dr. Stefan Rücker von rund 40.000 Fällen pro Jahr aus (Quelle). Die Zahlen werden durch die KiMiss-Studie unterstützt. Jedoch haben sich bisher weder das BMFSFJ noch das DJI zu einer genaueren Datenerhebung bemüßigt gefühlt.
5 Einzige Rechtsfolge ist, dass Familiengericht und Jugendamt in aller Regel heilfroh sind, die Akte an einen anderen Zuständigkeits-bereich abgeben zu können.
6 Eine Liste der Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR in Familiensachen findet sich hier.
7 Dem EuGH ist aufgefallen, dass Deutschland Kindesentzug strafrechtlich je nach In- oder Auslandsbezug unterschiedlich behandelt. Daher wird § 235 StGB derzeit überarbeitet (siehe EPP Modernisierung Strafrecht). Man darf gespannt sein, ob der Kindesentzug durch einen Elternteil nun auch im Inland sanktioniert oder komplett legalisiert wird.

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Sorgerecht und das Kind wird in die Obhut des anderen Elternteils übergeben. Ein Umzug ist jederzeit möglich, aber eben nur in einer Entfernung, die den sozialen Kontakt noch erlaubt (z.B. Grenze des Bundestaats, Radius von 50 Meilen um den bisherigen Lebens-mittelpunkt). Wenn ein Elternteil ohne Zustimmung des anderen über diese Grenze hinaus umziehen will, so braucht es dafür einen familiengerichtlichen Beschluss.8
Auch in Deutschland wäre eine solche „Schulbezirksregel“ möglich, wenn man bei der Abwägung zwischen Individualinteressen und Elternpflichten nach Art. 6 (2) GG das Kind stärker in den Blick nehmen würde.
Umgang mit Entfremdung in Irland
In Irland setzt die Regierung seit 2022 eine Strategie zur Verbesserung des Familienrechts-systems um. Hierzu gehört eine Umfrage unter Beteiligten von Familienrechtsverfahren, insbesondere aber auch von jungen Erwachsenen, die als Kind von solchen Verfahren betroffen waren. Das irische Justizministerium hat zum Phänomen der induzierten Eltern-Kind-Entfremdung selbst eine Übersicht verfasst, die den aktuellen Forschungsstand, mögliche Kriterien und Interventionen sowie konkrete Maßnahmen enthält. Als weiterer Schritt wurde ein offener Konsultationsprozess durchgeführt, um die anschließende Gesetzesreform auf eine möglichst breite zivilgesellschaftliche Basis zu stellen.9
Dem irischen Justizministerium gelingt es auf diese Weise, das Thema Entfremdung bewusst zu machen, zu objektivieren und mit in einen konstruktiven Reformprozess einzubeziehen.
Das komplette Fehlen von Präventionsmaßnahmen gegen Kontaktabbrüche ist vor diesem Hintergrund eine schreiende Leerstelle im EPP, die durch sachliche Gründe nicht erklärbar ist.

3. Die Kritik im Einzelnen

Bedauerlicherweise adressiert das BMJ mit vielen der vorgeschlagenen „Lösungen“ nicht die betroffenen Trennungsfamilien, die überwiegende Mehrheit von Familienformen, sondern Patchwork- bzw. Regenbogenfamilien. Dieser übergroße Fokus auf Minderheitenphänomene verstellt den Blick auf die wirklich nötigen Bedarfe der Mehrheit der Zivilgesellschaft.
Wir begrüßen einige Punkte im EPP, erlauben uns jedoch folgende Anregungen und Weiter-entwicklungen für Punkte, die Trennungsfamilien betreffen:

3.1 Vollstreckbare „Umgangsvereinbarung“ (III.3)

Wir unterstützen folgenden Passus im EPP:
„Eltern sollen künftig Vereinbarungen darüber, wie sie die Betreuung ihres Kindes untereinander zeitlich aufteilen möchten, mit einer Beurkundung der sofortigen Vollstreckung unterwerfen können. Dadurch soll im Streitfall die Durchsetzung der Vereinbarung durch den einen Elternteil gegen den anderen Elternteil ermöglicht werden.“
und
„Die Neuregelung soll die Autonomie der Eltern stärken.“
Bedauerlicherweise schweigt sich das BMJ zur konkreten Lösungsfindung aus. Werden sich wie bisher diejenigen Elternteile durchsetzen, die sich am unkooperativsten zeigen? Wie möchte man

8 Beispielhaft seien hier die Regelungen in Kalifornien, Florida, Michigan und New Jersey genannt.
9 Quellen: Strategieformulierung, Bericht und Policy Paper zu Entfremdung, Pressemitteilung

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elterliche Vereinbarungen und gerichtliche Beschlüsse in Zukunft durchsetzen? Oder soll weiterhin das Recht des Rücksichtsloseren statt Rechtsstaatlichkeit gelten?
Weiter spricht das BMJ in nicht zeitgemäßer Weise von einer „Umgangsvereinbarung“ zwischen den Eltern. Dies ist nicht hilfreich, da es die im jetzigen Recht bestehende Hierarchisierung der Eltern bestärkt.
Eine auf Augenhöhe geschlossene elterliche Betreuungsvereinbarung steht für Rechtssicherheit in der Aufteilung der Erziehungsverantwortungen. Sie erfasst die Betreuungsanteile der Eltern in beiden Haushalten sowohl in den Schul- als auch Ferienzeiten sowie Regelungen zu Übergaben. Eine solche Vereinbarung kann somit auch stets die Betreuungsanteile im Jahresdurchschnitt benennen, die dann zur (linearen) Aufteilung der Unterhaltsleistungen dienen können.
Der Abschluss einer Betreuungsvereinbarung mit den oben genannten Inhalten sollte im Gesetz verankert und für die Eltern verpflichtend sein. Von der Trennung bis zur Einigung über die individuellen Betreuungsanteile (oder ersatzweise familiengerichtlichem Beschluss) muss dabei der Grundsatz gelten: Jeweils hälftige Betreuung bis zur Einigung entsprechend Art. 3 und 6 GG.
Einer solche Regelung würde einen Rahmen für kooperatives Elternhandeln setzen. Dies müsste aber durch weitere Regelungen (Durchsetzbarkeit der Vereinbarung, Aufteilung der Bedarfe der Kinder im Unterhaltsrecht) entsprechend flankiert werden.

3.2 Gemeinsames Sorgerecht (III.6)

Im EPP heißt es:
„Ein nicht mit der Mutter verheirateter Vater soll künftig in den Fällen, in denen die Eltern einen gemeinsamen Wohnsitz haben, das gemeinsame Sorgerecht erlangen können, indem der Vater eine einseitige, beurkundete Erklärung abgibt.“
Das Grundgesetz unterscheidet in Art. 6 (mit Ausnahme des Mutterschutzes bei Schwangerschaft) bei Elternrechten und -pflichten nicht zwischen verheirateten und unverheirateten Eltern. Gleichzeitig legt es großen Wert auf Gleichbehandlung von Frauen und Männern (Art. 3 GG). Elterliche Sorge besteht zuallererst nicht aus Rechten, sondern aus Pflichten. Beides steht auch dem biologischen Vater von Anfang an zu.
Daraus muss das Sorgerecht ab Geburt auch für leibliche unverheiratete Väter folgen, unabhängig von der Meldeadresse. Das bestehende Vetorecht der Mutter gegen das Sorgerecht unverheirateter Väter ist abzuschaffen. Die gemeinsame Sorge ab Geburt entspricht im Übrigen auch der Regelung in den meisten anderen westlichen Staaten.

3.3 Partnerschaftliche Betreuung (III.7)

Klassenaufteilung von Elternschaft
Das BMJ möchte für Trennungsfamilien eine Aufteilung in die drei Klassen „Wechselmodell“, „asymmetrisches Wechselmodell“ sowie „Residenzmodell“ gesetzlich festschreiben.
Damit verstößt das BMJ gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot nach Art. 3 GG. Das BMJ will Trennungseltern weiterhin ungleich behandeln und damit die Hierarchie zwischen den Eltern im Meldehaushalt und den Eltern im zweiten Haushalt fortschreiben. Dies steht im offenen Widerspruch zur vom BMJ beabsichtigten „Stärkung der Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten für die Eltern“.
Wir halten die mit der avisierten Klassenaufteilung verbundenen Auf-, Ab- und teilweise Entwertungen der elterlichen Betreuungsleistung für grundgesetzwidrig und konfliktfördernd.

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„Wechselmodell“ versus „Residenzmodell“
Das EPP sieht erstmals formal eine gesetzliche Regelung des gleichberechtigten Betreuens der Kinder als „Wechselmodell“ vor – wenn auch in äußerst engem Rahmen bei einer Aufteilung von exakt 50:50.
Dies berücksichtigt im Jahre 2024 erstmals de jure die Grundrechtspositionen beider Eltern. Jedoch bleibt die vorgeschlagene Regelung noch hinter der geltenden Rechtsprechung des BGH aus 2017 zurück (BGH XII ZB 601/15). Denn nach den Vorschlägen im EPP soll das Wechselmodell nur dann gerichtlich angeordnet werden können, wenn es dem Wohl des Kindes am besten entspricht (positive Kindeswohlprüfung).10
Mit einer derartigen Regelung verschärft das BMJ jedoch den Streit um die Betreuung der Kinder. Die „positive Kindeswohlprüfung“ ist inhaltlich nicht definiert und lädt zu manipulativem Verhalten vor Gericht ein. Sie muss ersetzt werden durch eine negative Kindeswohlprüfung, also dem Feststellen der Abwesenheit vom Kindeswohlgefährdungen.11 Dies lässt sich unmittelbar mit der angestrebten gesetzlichen Definition des Kindeswohlbegriffs im Sinne eines Kriterienkatalogs verbinden (siehe auch Abschnitt 3.5).
Im Widerspruch zu den Beteuerungen aus dem BMJ, es sei im Gesetz kein „Leitmodell“ zur Aufteilung von Betreuung für die Kinder vorgesehen, steht der Ansatz des EPP jedoch für genau dies: Die rechtliche Bevorzugung des „Residenzmodells“ gegenüber dem partnerschaftlichen Betreuen.
Dabei wäre genau der gegenteilige Ansatz sinnvoll: Eine paritätische Betreuung kann in vielen Fällen zu einer Entlastung von Kindern auch bei strittigen Elterntrennungen beitragen. Die oftmals vorgetragene Behauptung, die paritätische Betreuung setze gute Kommunikation voraus ist falsch und dient lediglich dazu, einer Seite die Kontrolle über das Betreuungsmodell zu geben.
Kosten des „Umgangs“ in Trennungsfamilien
Im EPP heißt es:
„Bei einer Umgangsregelung soll das Gericht für die notwendigen Kosten der Ausübung des Umgangsrechts Regelungen vorsehen können, wonach der andere Elternteil die Kosten ganz oder zum Teil trägt, wenn die Billigkeit dies erfordert.“
Diese Formulierung ist unklar und es bleibt abzuwarten, welche konkreten Regelungen das BMJ hier vorsehen möchte. Es ist jedoch absehbar, dass hier für den „Betreuungselternteil“ ein finanzieller Fehlanreiz entsteht, die Betreuungszeit des anderen Elternteils zu minimieren, um gleichfalls die damit verbundenen Kosten zu reduzieren. Dies geht in die falsche Richtung.
Um das Kernproblem klar zu benennen: Mitbetreuung hat immer höhere Kosten als reine Alleinerziehung. Gleichzeitig dient die gemeinsame Betreuung dem Wohl des Kindes im Normalfall stets mehr, als Alleinerziehung.12

Es sei an dieser Stelle auch nochmal auf das Menschenrecht der Kinder auf Beziehung zu beiden Eltern hingewiesen.13
Sogenannte „Wechselmehrkosten“ entstehen entgegen langläufiger Meinung auch schon bei geringeren Betreuungsanteilen von 25% oder 30%, nämlich spätestens dann, wenn aus Kindeswohlgründen objektiv ein eigenes Kinderzimmer notwendig ist. Sie werden im aktuellen Recht jedoch unsichtbar gemacht und nicht berücksichtigt.

10 Siehe Abschnitt 1.3 im FAQ zum Kindschaftsrecht
11 Ein entsprechender Ansatz ist bereits jetzt in § 1626a (2) BGB enthalten.
12 Beide Eltern haben unterschiedliche Rollen und Aufgaben in der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern. Der Ausfall eines Elternteils (oder sogar beider) kann durch andere Bezugspersonen teilweise kompensiert werden, jedoch ist reine Alleinerziehung im Grundsatz immer ein entwicklungspsychologisches Notprogramm.
13 Siehe Art. 9 UN-KRK, Art. 8 EMRK und Art. 24 EU-Grundrechte-Charta

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Hier muss es im Sinne der Kinder zu einem notwendigen Perspektivwechsel kommen: Nicht die gemeinsame Betreuung löst Mehrkosten aus, sondern die Alleinerziehung stellt eine Bedarfsreduktion auf Kosten der Kinderrechte und des Kindeswohls dar.
Es muss also ein Weg gefunden werden, die entstehenden Kosten so aufzuteilen, dass eben kein oder nur ein geringer finanzieller Fehlanreiz hin zu einer mutwilligen Alleinerziehung entsteht. Dies gelingt dadurch, dass im Unterhaltsrecht die Bedarfe der Kinder endlich in beiden Haushalten objektiv ermittelt werden und diese Kosten dann auch von beiden Eltern anteilig getragen werden.14 Dazu braucht es einen Paradigmenwechsel hin zum Grundsatz „Beide betreuen, beide bezahlen“.

3.4 Schutz vor häuslicher Gewalt (III.8)

Häusliche Gewalt ist ein sehr ernst zu nehmendes und komplexes Thema. Wünschenswert ist, die betroffenen Kinder und beide Eltern vor Gewalt zu schützen. Im EPP heißt es hierzu:
„Es soll klargestellt werden, dass das Familiengericht in Umgangsverfahren etwaige Anhaltspunkte für häusliche Gewalt gegenüber dem Kind und/oder dem anderen Elternteil und deren Auswirkungen umfassend und systematisch ermittelt und eine Risikoanalyse vornimmt.“
Gewaltvorwürfe werden von den Familiengerichten im Rahmen der Kindeswohlprüfung bereits heute berücksichtigt. Auf Basis des § 1666 BGB steht den Gerichten eine Vielzahl von Reaktions-möglichkeiten und Maßnahmen zur Verfügung, die auch genutzt werden. Von daher drängt sich die Frage auf: Welchen konkreten Mehrwert sollen die vorgeschlagenen Änderungen bringen?
Weiter heißt es:
„Es soll klargestellt werden, dass das Familiengericht den Umgang beschränken oder ausschließen kann, wenn dies erforderlich ist, um eine konkrete Gefährdung des gewaltbetroffenen betreuenden Elternteils abzuwenden. Das dient auch der ausdrücklichen Berücksichtigung von Artikel 31 Istanbul-Konvention“
Dies ist, wie oben geschrieben, bereits heute möglich. Neben Umgangsausschlüssen gibt es die Möglichkeit der Umgangsbegleitung oder der Umgangspflegschaft, durch die der Kontakt zwischen den Eltern gänzlich vermieden werden kann.
Eine entscheidende Frage lässt das EPP jedoch aus: Wie will man zwischen tatsächlicher und prozesstaktisch behaupteter Gewalt unterscheiden? Auf dieses zentrale Dilemma der Familien-gerichte geht der Entwurf nicht ein.
Weiter sehen wir den Bezug auf die „Istanbul-Konvention“ (IK) äußerst kritisch. Explizites Ziel der IK ist der Schutz von Frauen vor Gewalt und Benachteiligung.15 Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist jedoch ein universelles Menschenrecht und gilt daher für alle Menschen – auch für Männer und für Kinder jedweden Geschlechts.16
Durch die IK wird eine geschlechtsspezifische Täter-Opfer-Dichotomie eröffnet, bei der Männer als Opfer und Frauen als Täterinnen oftmals nicht mitgemeint sind. Ein geschlechtsspezifisches Straf- oder Familienrecht verstößt jedoch gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 3 GG.

14 Wir möchten an dieser Stelle auf unsere Stellungnahme zur Unterhaltsreform hinweisen. Die Regelungen des Sozialrechts mit dem Institut der „temporären Bedarfsgemeinschaft“ bieten hier einen erprobten und grundgesetzkonformen Weg, die objektiven Bedarfe der Kinder in beiden Haushalten anteilig festzustellen.
15 Siehe Präambel und Art. 1 der Istanbul-Konvention
16 Siehe Art. 2 (2) GG und Art. 3 EU-Grundrechte-Charta

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Weiter sehen wir hier einen Widerspruch zu rechtsstaatlichen Prinzipien. Die Unschuldsvermutung im Strafrecht ist eine zentrale Säule der Rechtsstaatlichkeit. Der Text des EPP legt jedoch nahe, dass im Familienrecht eine unzulässige Beweislastumkehr eingeführt werden soll. Auch ist anzunehmen, dass Familienrichter weit weniger umfänglich ermitteln werden, als Strafrichter es aufgrund der dort geltenden Beweislast tun müssen.
Bei Umsetzung dieser Position wird es vielfach Fälle geben, bei denen es im Strafrechtsprozess zu einem Freispruch oder einer Einstellung kommt, das Familiengericht jedoch bis dahin Tatsachen geschaffen hat, die zu einem irreparablen Kontaktabbruch zum Kind geführt haben. Auch möchten wir auf die Fälle hinweisen, in denen im Familiengerichtsverfahren zwar Gewalt behauptet, diese jedoch nie bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige gebracht wird.
Die bloße Behauptung von Gewalt darf nicht automatisch zu einem irreparablen Kontaktabbruch zum Kind führen, da dies rechtsstaatliche Grundsätze und Kinderrechte verletzt.
Abschließend möchten wir die Frage stellen, wie man mit (erwiesenen) Falschbeschuldigungen und (erwiesenem) entfremdenden Verhalten umgehen möchte. Denn beide Verhaltensweisen sind eine häufig vorkommende psychische Gewaltform gegen das Kind und den anderen Elternteil.

3.5 Stärkung der Kinderrechte (III.9)

Wir unterstützen die gesetzliche Regelung eines expliziten Umgangsrechts für wichtige Bezugs-personen des Kindes wie Großeltern und Geschwister. Dies ist seit langem überfällig.
Weiter begrüßen wir die geplante explizite Definition von Kindeswohl im Gesetz. Dabei wird es darauf ankommen, wie detailliert die Definitionen vorgenommen werden. Hierzu heißt es im EPP:
„Der für das Kindschaftsrecht sehr bedeutsame Begriff des Kindeswohls soll klarer konturiert werden: Die verschiedenen Aspekte, die bei der Ermittlung des Kindeswohls regelmäßig zu beleuchten und zu gewichten sind, sollen als nicht abschließender Katalog im Gesetz benannt werden.“
Als Best-Practice-Beispiel möchten wir die Regelung in Österreich (§ 138 ABGB) herausstellen. Dort wird unter anderem definiert:
„Wichtige Kriterien bei der Beurteilung des Kindeswohls sind insbesondere […]
8. die Vermeidung der Gefahr für das Kind, rechtswidrig verbracht oder zurückgehalten zu werden oder sonst zu Schaden zu kommen;
9. verlässliche Kontakte des Kindes zu beiden Elternteilen und wichtigen Bezugspersonen sowie sichere Bindungen des Kindes zu diesen Personen;
10. die Vermeidung von Loyalitätskonflikten und Schuldgefühlen des Kindes“
Eine Definition in dieser Klarheit würde man sich auch im deutschen Familienrecht wünschen.
Wichtig ist zudem ein Paradigmenwechsel in bundesdeutschen Familiengerichten: Die Gerichte sollten zukünftig nicht mehr eine – aktuell inhaltlich undefinierte – positive Kindeswohlprüfung durchzuführen, die letztlich zur Fragestellung: „Wer ist der bessere Elternteil?“ führt und die in Verfahren naturgemäß stark eskalierend wirkt. Sehr viel sachgerechter ist, zukünftig eine negative Kindeswohlprüfung vorzunehmen, also die Prüfung der Abwesenheit von Kindeswohlgefährdung.
Bezüglich der geplanten Mitentscheidungsbefugnisse von Kindern ab 14 Jahren möchten wir anmerken, dass Jugendliche sich in diesem Alter in der Hochphase der Adoleszenz befinden. Bei der Übertragung der Entscheidungsbefugnis zu Umgang und Sorge in dieser emotionalen Umbruchphase kann es zum Agieren der Jugendlichen und zur Rollenumkehr kommen. Eine solche

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Parentifizierung ist nicht kindgerecht und hat in aller Regel eine negative Auswirkung auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung.
Das jetzige Recht sieht eine verpflichtende Anhörung und Berücksichtigung des Kindeswillens vor, aber keine Entscheidungsbefugnis. Wir halten die aktuelle Rechtslage für sachgerechter und daher ausreichend.

4. Politische Dimension und Bewertung

4.1 Einschätzung

Das vorgestellte Eckpunktepapier repräsentiert nicht die Erwartungen der Zivilgesellschaft an eine zeitgemäße Reform des Kindschaftsrechts.
In den vorgeschlagenen Eckpunkten werden zahlreiche Aspekte thematisiert, die entweder bereits hinreichend geregelt sind oder vor allem Minderheiten betreffen. Aber gerade die Themen, die eine breite Mehrheit der Trennungsfamilien betreffen und weitreichende gesellschaftliche sowie generationsübergreifende Folgen haben, werden nicht im Ansatz angesprochen. Hier klafft eine sachlich nicht mehr erklärbare inhaltliche Lücke.
Eine wirksame und nachhaltige Reform des Familienrechts in Deutschland müsste sich in der Analyse doch von einigen ganz simplen Fragen leiten lassen:
- Warum verlieren bei Trennungen so viele Kinder einen Elternteil?
- Warum wird Deutschland in Familiensachen immer wieder vom EGMR verurteilt?
- Warum gibt es im Familienrecht eine solch außerordentlich hohe Prozessquote?
- Warum kann der Kindesunterhalt in über der Hälfte der Fälle nicht oder nicht vollständig geleistet werden?17
- Wie kann eine bessere Verteilung von Sorge- und Erwerbsverantwortung erreicht werden?
- Wie kann das staatliche Hinwirken auf die Gleichberechtigung von Frauen und Männern nach Art. 3 (2) GG effektiv umgesetzt werden?18

Diese drängenden Fragen werden nicht gestellt und folglich gibt das Eckpunktepapier hierauf auch keine Antworten.
Es ist völlig unerklärlich, warum sich das BMJ bei einer derart umfassenden Reform nicht von Best-Practice-Beispielen anderer Länder (EU, USA, Kanada, Australien) leiten lässt. Hier gibt es teilweise gute, deeskalierende und kinderzentrierte Regelungen, die sich langjährig bewährt haben.
So entsteht der Eindruck, das vorliegende Eckpunktepapier folgt einem lobbyzentrierten Ansatz, der sich an einer vermeintlichen politischen Umsetzbarkeit orientiert und nicht von den tatsächlichen Problemen der breiten Bevölkerung geleitet ist. Ein auf Analysen und Daten basierender zivilgesellschaftlicher Prozess, wie er bei der aktuellen Familienrechtsreform in Irland beispielhaft stattfindet (siehe Abschnitt 2.5), ist nicht feststellbar. Die naheliegenden obigen Überlegungen scheinen in der Konzeption des EPP überhaupt nicht zugänglich gewesen zu sein.
Dabei sind die gesellschaftlichen Folgen doch offensichtlich, wenn die bestehenden Kernprobleme durch die Reform nicht nur ausgelassen, sondern geradezu verschärft werden.

17 Auf den kausalen Sachzusammenhang zwischen der Betreuungsaufteilung und den jeweiligen Bedarfen der Kinder in den beiden Haushalten der Eltern haben wir bereits in Abschnitt 2.3 hingewiesen. Zu den Ursachen von Unterhaltsausfall haben wir hier eine Analyse vorgelegt.
18 Gerade das Familienrecht ist hierfür doch ein zentrales Rechtsgebiet mit entsprechender gesellschaftlicher Signalwirkung.

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4.2 Einordnung in den Gesamtzusammenhang

Der vorliegende Entwurf zum Kindschaftsrecht steht nicht alleine, sondern ist im Zusammenhang mit anderen damit verbundenen Gesetzesinitiativen zu sehen, namentlich der Reform des Unterhaltsrechts und der Einführung der Kindergrundsicherung. Im Einzelnen:
Die Kindergrundsicherung in der jetzigen Form sichert nicht die Kinder, sondern alimentiert den Elternteil der Meldeadresse. Da für den zweiten Elternteil nicht mal ein Antragsrecht vorgesehen ist, bedeutet dies eine grundgesetzwidrige Verschlechterung im Vergleich zu den aktuellen Regelungen des Sozialrechts.19
Bei der Reform des Unterhaltsrechts bleiben die Bedarfe der Kinder im zweiten Haushalt weiterhin unsichtbar. Durch ein Stufenmodell besteht der finanzielle Fehlanreiz, den zweiten Elternteil unter einen Betreuungsanteil von 30% zu drängen. Es bestehen massive staatliche Durchgriffsrechte für Beträge, die bereits jetzt für die überwiegende Mehrheit nicht mehr leistbar sind.
Im vorliegenden Entwurf zum Kindschaftsrecht gibt es keinerlei Maßnahmen gegen einseitigen Wegzug oder induzierte Kontaktabbrüche – diese Punkte werden nicht mal benannt. Somit bleibt das „Umgangsrecht“ weiterhin ein Recht, das (ganz im Gegensatz zum Unterhaltsrecht) faktisch nicht durchsetzbar ist.
Wir möchten an dieser Stelle klar die Konsequenzen für Trennungsfamilien benennen, wenn die Vorhaben in dieser Form umgesetzt werden:
- Der Elternteil der Meldeadresse erlangt vollständige Kontrolle über Art und Umfang des Kontakts des Kindes zum anderen Elternteil. Im Extremfall wird dies durch erfundene Gewaltvorwürfe, Kontaktvereitelung oder Induzierung von Loyalitätskonflikten (Entfremdung) erreicht.
- Staat und Familiengerichte haben kein ausreichend genutztes und somit kaum wirksames Instrumentarium, um einseitige Eskalation zu begrenzen, das Kind vor psychischer Gewalt zu schützen und sein Menschenrecht auf Beziehung zu beiden Eltern zu wahren.
- Unabhängig von Verhalten oder Einkommen des Elternteils der Meldeadresse hat der zweite Elternteil eine Unterhaltspflicht, die bereits heute bis in mittleren Einkommensschichten nicht mehr leistbar ist. Gleichzeitig bestehen für den Kindesunterhalt massive staatliche Durchgriffsrechte. Geld steht an deutschen Familiengerichten über Beziehung.20
- Kindesunterhalt dient nicht mehr nur der Existenzsicherung des Kindes, sondern hat zunehmend den Charakter eines Einkommenstransfers. Auch die geplante Kindergrund-sicherung fokussiert in dieser Form ausschließlich auf eine Alimentation der Meldeadresse und nicht auf die tatsächlichen Bedarfe des Kindes.
In diesem Rechtsrahmen bestehen offensichtlich massive Fehlanreize, die einseitig eskalierendes Verhalten belohnen, gemeinsame Elternschaft systematisch verhindern und vom Wohlwollen eines Elternteils abhängig machen. Dies ist das Gegenteil von dem, was ein an den Kindern und ihren Rechten orientiertes Familienrecht bewirken sollte.


19 Hier sieht auch der Bundesrat klare Widersprüche zum Grundgesetz, siehe BR DS 505/1/23 Punkt 66 und Bundesratsbeschluss BR DS 505/1/23 (B), dort S. 55 (Erläuterungen zu den Buchstaben k bis m).
20 Ein konkretes Beispiel: OLG Schleswig 15 WF 414/13

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4.3 Gesellschaftliche Folgen

Da die aktuellen und in der Sache durchaus notwendigen familienpolitischen Reformen und Initiativen auf mehrere Rechtsbereiche und zahlreiche Einzelmaßnahmen verteilt sind, geht hier möglicherweise der Blick für die gesamtgesellschaftlichen Wirkungen verloren.
Wenn die familienpolitischen Reformen in ihrer Gestalt weiterhin ausschließlich Partikular-interessen umsetzen oder die derzeitige Gesetzeslage bestehen bleibt, so sind folgende mittelfristige Entwicklungen doch bereits jetzt logisch absehbar:
- Der Anteil „sozialer Halbwaisen“, also Kinder, die den Kontakt zu einem Elternteil vollständig verlieren, wird weiter ansteigen. Dies wird negative Auswirkungen auf die Persönlichkeits-entwicklung und psychischen Resilienzfähigkeiten ganzer Generationen haben.
- Der Erwerbsanreiz für beide Eltern sinkt weiter. Durch die Transfers an die Meldeadresse (Kindesunterhalt und staatliche Leistungen) reichen geringfügige oder Teilzeittätigkeiten oftmals aus – auch bei älteren Kindern. Die diversen und vielfach angemahnten „Gaps“ wird man so sicher nicht schließen.
- Auch für die Unterhaltspflichtigen macht Erwerbsarbeit keinen Sinn mehr, wenn sie – unabhängig vom eigenen Einkommen – am Ende doch nur auf einen Selbstbehalt zurückgeworfen sind, der in vielen Fällen noch unter Bürgergeld-Niveau liegt.
- Wie werden die Menschen reagieren, wenn sie einerseits nicht leistbaren Zahlungs-verpflichtungen ausgesetzt sind und andererseits stets Gefahr besteht, den Kontakt zum eigenen Kind zu verlieren? Wie werden die Betroffenen unseren Rechtsstaat wahrnehmen?
- Elternschaft wird in diesem Szenario zu einem finanziellen und gesundheitlichen Hochrisiko. Welche Folge wird dies für die Geburtenrate haben?
Und abschließend: Welche Folgen werden die genannten Punkte für unser gesellschaftliches Zusammenleben und die rechtsstaatliche Legitimierung haben?
Eine Gleichberechtigung im Sinne des Art. 3 GG werden wir nur durch Gleichbehandlung erreichen. Jede Diskriminierung – und sei es positive Diskriminierung – bewirkt das Gegenteil und führt letztlich zu mehr Konflikten und gesellschaftlichen Erosionsprozessen.
In der Gesamtbetrachtung kommen die sechs Verbände aus den genannten Gründen daher zu folgender Bewertung:
„Die realen und drängenden Probleme von Trennungsfamilien werden im Entwurf nicht angegangen. Ein Großteil der vorgeschlagenen Eckpunkte adressiert Partikularinteressen Erwachsener, ohne die Rechte und Bedarfe der Kinder ausreichend in den Blick zu nehmen.
Ein Bewusstsein für die negativen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der fehlenden bzw. unzureichenden Maßnahmen ist offenbar nicht vorhanden. Die vorgeschlagenen Eckpunkte werden die dramatische Lage an den Familiengerichten nicht ändern und beschreiben faktisch eine Reform ohne Reform.“
Die Verbände stehen gerne für Rückfragen und konstruktive Gespräche zur Verfügung.

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Quellen im Original mit allen Verlinkungen zum Download:

 

Sechs Verbände / Netzwerk für Trennungsfamilien:


Elmar Riedel, Bundesvorstand, Väteraufbruch für Kinder e. V. https://vaeteraufbruch.de

Dr. Charlotte Michel-Biegel, Vorstand, Papa Mama Auch e.V. https://www.papa-mama-auch.de

Gerd Riedmeier, Vorsitzender, FSI – Forum Soziale Inklusion e. V. https://fsi-ev.de

Stefan Dringenberg, 1. Vorsitzender, EfKiR- Eltern für Kinder im Revier e. V. https://efkir.de

Annemie Wittgen, Vorsitzende, BIGE Bundesinitiative Großeltern https://www.grosselterninitiative.de

André Rossnagel, Vorstand, Väternetzwerk e. V. https://vaeter-netzwerk.de

 

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